Kapitel 1

Die helle Stadt am Meer

Es war ein großes Wehklagen. Kassandro hatte es vorhergesehen, aber niemand hatte ihm geglaubt.

Das Füllhorn der Schätze schien niemals zu versiegen und zu verlockend waren die Annehmlichkeiten in der mit Reichtum und Schönheit gesegneten Stadt. Es lebte sich hervorragend hier. Stolz waren ihre Bewohner. Hatte sie doch dem allgewaltigen Meer mit hoher Ingenieurskunst das Land für ihre prächtige Stadt abgerungen. Wie Götter verehrte man die Gründerväter. 

Die Bautätigkeiten hatten Schätze zutage gebracht, die in Folge nicht nur zur Ausstattung und der Verzierung der Gebäude, der Kleidung sowie verschiedenster Alltagsgegenstände dienten, sondern auch einen einträglichen Tauschhandel ermöglichten. Der Hafen war ein glitzerndes Tor zur Welt und landseits lud ein weitläufiger Marktplatz wie ein riesiges Foyer zum Eintritt in die sagenhaft reiche Stadt Ariveda ein, zog die Besucher regelrecht an, um sie dann völlig und für immer zu verschlingen. 

In allen Regenbogenfarben glänzte der Perlmutter, verbreitete Bernstein seinen weichen warmen Schein und schimmerten Perlen geheimnisvoll. Glatt polierte Stukkaturen spiegelten das Licht der Umgebung vielmals wieder und ließen Gebäude und Skulpturen in tausend sanften Farben wie Seifenblasen schillern. Akzente auf den glatten Flächen bildeten zarte Silbergravuren und gewobene Spitzen aus ebensolchen Fäden. Dieses helle edle Metall erhandelte man sich mit den einheimischen Schätzen.

Nachdem die Ingenieure mit Palisadenwänden, viel Erdreich und Steinen die Fundamente entstehen ließen, wo vorher nichts als Wasser war, hatten Bauherren und Künstler anschließend eine ganz eigene noch nie da gewesene  Architektur geschaffen. Es gab keine Kanten und Ecken. Kuppeln, Bögen und sanft geschwungene, fließende Linien beherrschten das Stadtbild. Es war ein leichter fast schwerelos wirkender Prunk – ganz anders als andere reiche Städte dieser Zeit mit ihren Monumentalbauten und üppigen goldschweren Pilastern und Tympana.

Wie eine Perle am Strand lag die helle Stadt am Rande des azurblauen, smaragdgrünen Meeres und gab ihm somit in neuer Form zurück, was man ihm mit unnatürlicher Gewalt entrissen hatte.

***

Kassandro schlenderte zum Rand der Stadt. Er stellte sich gern auf die letzte Deichreihe und ließ sich von dem salzigen Wind die Gedanken klarpusten. Er beobachtete die Wellenzungen, die beständig an der Deichwand leckten. Es schien ihm, als sei der Wasserspiegel höher als die Straßen und Wege hinter den Schutzdeichen. Aber es  war nichts Bedrohliches in dieser Wahrnehmung. Im Gegenteil, so waren die Bewohner vor dem rauhen Seewetter geschützt.

Heute zog es ihn auf die westliche Seite der Stadt. Dort, außerhalb der schützenden Deichreihen, beobachtete er Arbeitsmenschen. Sie gruben tiefe Gänge in die helle Steilküste und durchwühlten den Strand. Man war auf der Suche nach großen Perlmutt-Muscheln, weißer Kreide und golden schimmerndem Bernstein. Junge Menschen tauchten nach Perlen. 

Längst genügten die beim Bau der Stadt gewonnenen Schätze nicht mehr, den immer wieder nachwachsenden Bedarf an Silber und Waren aus aller Welt zu decken. 

Kassandro blickte unverwandt zu den arbeitenden Menschen herüber. Sahen diese Wesen doch aus wie seinesgleichen. Trotzdem gab es keinerlei private Kontakte zwischen denen und den Menschen der Stadt.

Plötzlich störte eine ungewöhnliche Bewegung in der Landschaft das gleichmäßige, fast rhythmische Treiben am Strand. Ein Teil der Küste brach. Es sah aus, als hätte sich der Sand verflüssigt. Schwallartig rutschten Erdmassen hinab. Wo vorher noch Höhleneingänge gähnten, lag nun ein riesiger Berg Sand. Wie eine heilende Schlammpackung hatte sich die Sandlawine auf die klaffenden Wunden der Steilküste gelegt.

Es war ihm befremdlich, dass sich kaum jemand um das Geschehen zu kümmern schien. Die Arbeitsmenschen, die weit genug vom Abrutschort entfernt waren, blickten nur kurz auf und arbeiteten sofort weiter. Einzig eine junge Perlentaucherin stieg aus dem Wasser und schritt auf die Stelle zu, wo eben noch Sandarbeiter körbeweise Erdreich herausgeschleppt hatten. Kassandro konnte sehen, dass sie minutenlang auf die Abbruchstellen starrte. Aber bald wandte auch sie sich ab und stieg wieder hinab ins Meer. 

Warum versuchte niemand, den Sand beiseite zu schaufeln und die Verschütteten zu retten? Dass ein Stadtbewohner kommen würde, um zu helfen, lag nicht im Rahmen des Vorstellbaren. Kaum jemand schaute über den Deichrand hinaus. Auch die Verwalter der Arbeitsmenschen ließen sich nicht blicken. Gab es nicht untereinander so etwas wie Mitleid und Hilfsbereitschaft? Offensichtlich waren diese Wesen so erzogen, dass sie sich selbst nichts wert waren und ein solches Ereignis nicht anders wie den Verlust eines Werkzeugs wahrnahmen. Menschen ohne Wert? Wo wäre Ariveda heute, wenn es diese Arbeitsmenschen nicht gäbe? Wer würde die schweren Arbeiten erledigen, die Rohstoffe gewinnen, die Äcker bestellen? Es war ein ganz selbstverständlicher Dienst – Arbeit genannt. Kassandro verglich diese Tätigkeiten mit den hohen Diensten, die ausgewählte Bewohner der Stadt verrichten durften. Stadtmenschen entwarfen neue Gebäude, schufen Kunstwerke, kochten schmackhafte Speisen, trieben Handel, führten Theaterstücke auf, sangen und tanzten … Selbst das Säubern der schönen Gebäude und Straßen war eine begehrte Beschäftigung. 

Alles, was sich innerhalb der Schutzdeiche abspielte, wurde “Leben” genannt und hoch geachtet. Kassandro sah Ähnlichkeiten zwischen beidem und verstand nicht, warum ein Unterschied gemacht wurde.

Als er begann, wieder hinab in die Stadt zu steigen, kreisten seine Gedanken noch immer um die Arbeitsmenschen und ihren “Wert” für die helle Stadt am Meer. Er schaute noch einmal zurück. Scheinbar wies nichts mehr auf das kurze aber heftige Naturereignis hin. Die Steilküste sah aus wie immer. Nur das Meer schien ein Stück näher an die Küste herangerückt zu sein.

Dann ließ er sich vom fröhlichen Getümmel der nachmittäglichen Spaziergänger mitnehmen. Hier fühlte er sich geborgen und schnell verflogen die quälenden Gedanken, die ihn auf dem Deich befallen hatten.

Als Kassandro am nächsten Morgen erwachte, konnte er die Traumbilder der Nacht kaum fortwischen. Immer wieder hatte er das Abrutschen der Küste vor Augen. Im Traum sah alles noch viel gewaltiger aus. Das Meer war nicht azurblau und smaragdgrün wie er es kannte, sondern es brüllte dunkel gegen die Küste. Die sanften Wellenzungen hatten sich in wutschäumende Ungeheuer verwandelt, die wieder und wieder gegen die Schutzdeiche der Stadt peitschten. Arbeitsmenschen trieben klaglos in den tobenden Wassermassen. Den hellen Strand gab es nicht mehr. Immer, wenn eine große Welle gegen die Steilküste geklatscht war und sich wieder zurückzog, um neue Kraft zu sammeln, spiehen die Höhlen, in denen die Arbeitsmenschen nach Schätzen gegraben hatten, schmutzig braunes Meerwasser aus – Werkzeuge, Transportkörbe und manchmal auch menschliche Leiber mit sich führend …

Das Tosen und Brüllen nahm kein Ende, wobei sich Kassandro nicht sicher war, ob er das wirklich im Traum gehört hatte. Aber er WUSSTE, dass es so war.

Schließlich völlig erwacht, bemerkte er, dass tatsächlich etwas anders war. Der Seewind, der sonst beständig mit sanftem Rauschen über die Kuppeln der Stadt hinweg glitt, war heute stärker als sonst. Er röhrte und pfiff durch Dachöffnungen und Luken. Das war es, was er im Schlaf gehört hatte! Es war schon fast beruhigend, dass es diese einfache Erklärung für seine bösen Träume gab. Aber dann durchfuhr ihn ein Schreck. Wie mag es draußen außerhalb der Schutzdeiche bei diesem Sturm aussehen? Er machte sich auf, um nach den Arbeitsmenschen zu sehen.

Auf dem Deich angekommen, hatte er Mühe der steifen Brise, die dort herrschte, standzuhalten. Es gab nichts, woran er sich hätte dort oben festhalten können. Gab es solches Wetter schon immer und oder war es ein neues unbekanntes Phänomen? Er hatte keine Erinnerung an ähnliche Wetterereignisse..

Die Arbeitsmenschen konnte er nicht sehen. Zu stark schäumte die Gischt und alles ringsum verschwand hinter einem Schleier aus schmutzigem Dunst.

Unvermittelt erfasste ihn eine heftige Böe. Er taumelte und verlor den Halt, trudelte den Deich hinunter – hinab in Richtung der tosenden See. Klatschend brachen sich über ihm die Wellen. Er schluckte und prustete. Widerlich salziges Wasser stieg ihm in die Nase und brannte in den Augen, die er vor Panik nicht schloss. Das Meer zerrte an ihm – hinab, hinaus, dann wieder pfeilschnell in Richtung Strand. Bald wusste er nicht mehr, wo oben oder unten war und ob er je das Land wieder erreichen würde. Nach einer endlos scheinenden und kräftezehrenden Zeit fand er sich, schwer nach Luft ringend, am Ufer auf nassem Sand. Das Meer hatte ihn wieder ausgespuckt und gab nun Ruhe, wenn es auch nicht mehr in den gewohnten Farben leuchtete. 

Am schmal gewordenen Strand lagen Menschenkörper. Einige erhoben sich und begannen Werkzeuge und Transportkörbe einzusammeln, die zerstreut über das Ufer verteilt waren oder im flachen Wasser trieben. Andere blieben leblos liegen.

Kassandro setze sich auf. Er war weit abgetrieben. Die Stadt konnte er hinter den Deichringen in der Ferne sehen – jedenfalls die hellen Kuppeln der höheren Gebäude, die sich seltsam leuchtend von dem immer noch dunklen Himmel abhoben. Es war nicht dieses sanfte Schimmern, das er kannte. Es sah bedrohlich aus. 

Er versuchte zu schätzen, wie lange er wohl brauchen würde, um dorthin zurück zu gelangen. Gerade wollte er sich auf den Wege machen, als eine junge Perlenfischerin vor ihm auftauchte. Sie reichte ihm einen kleinen Leinenbeutel sowie ein Muschelmesser und bedeutete ihm, ihr ins Meer zu folgen, um nach Perlmuscheln zu tauchen. Tatsächlich war er der letzte, der noch saß, alle anderen gingen bereits wieder ihrer Arbeit nach oder waren wohl tot. 

Aber ich bin kein Perlentaucher, versuchte er ihr zu erklären. Er meinte die junge Frau wiederzuerkennen, die am Vortag als einzige kurz an der Unglücksstelle verweilt hatte. Doch sie schüttelte nur den Kopf. Schnell. Nach einem solchen Sturm ist die Chance, auf eine gute Perlenernte groß, weil die Muscheln von ihren Steinbänken abgerissen wurden und durch die Dünung in flachere Areale gespült wurden. Hat man dir das nicht beigebracht? Nun war es Kassandro der den Kopf schüttelte, aber die junge Arbeitsfrau wartete kein Antwort ab und er folgte ihr mit seltsamen Respekt in Richtung Meer. Eigentlich sträubte sich alles in ihm, wieder in das nasse Element zu steigen, dem er soeben mit Not entkommen war. Andererseits schien ihm sein Tun fast schon selbstverständlich. 

Plötzlich wurde er abrupt gestoppt. Eine Hand umklammerte die Fessel seines linken Fußes. Sie waren dicht an einigen reglosen Körpern vorbei gelaufen. Dieser hier war offensichtlich nicht tot. Kassandro beugte sich hinunter zu dem Liegenden. Komm, ich helfe dir auf … Der aber zischte ihm, ohne seine Position zu verändern, von unten kaum verständliche Worte entgegen. dunkel – flüchten – totstellen, vernahm er. Kassandro verstand, dass nicht alle scheinbar leblosen Körper wirklich Tote waren. Da man sich nicht um die Verunglückten kümmerte, nutzten sie wohl die Chance, in der Dunkelheit ihrem Schicksal zu entfliehen. Niemand würde die verschwundenen Menschen vermissen. Das Meer würde die wahren Leichen des nachts fortspülen. 

Im Gesicht des Liegenden klebte feuchter Sand. Selbst Lippen und Wimpern waren mit einer dicken salzigen Sandkruste bedeckt. Das Weiße seines Augapfels war so stark gerötet, dass es aussah, als blute er aus den Augen. 

Kassandro fragte ihn sanft: Wie heißt du? Der Arbeitsmensch sagte zunächst nichts und starrte nur mit aufgerissenen Augen von unten herauf, als fürchte er, dass ihn dieser Stadtmensch, den er nun als solches erkannte, verraten könnte.

Dann besann er sich, lockerte den Griff und flüsterte: Biancos ist mein Name

Ich bin Kassandro,  erwiderte der. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder. Ich wüsste gern, wie ihr lebt. Aber jetzt möchte ich der jungen Perlenfischerin ins Meer folgen.

Perdita? Ein Lächeln huschte über das Gesicht des immer noch reglos am Boden liegenden Mannes. Schließlich ließ er Kassandros Fuß frei.

Der beeilte sich, den Abstand zu seiner jungen Führerin, die diese kleine Verzögerung nicht bemerkt hatte, aufzuholen.

Kassandro lernt die Arbeitsmenschen näher kennen. Von Perdita lernt er Schwimmen und Tauchen.

Bald ist er völlig in die Gruppe der Arbeitsmenschen integriert.

Ein Zurück in die Stadt scheint es für ihn nicht zu geben.

Er versucht zwar den Verwaltern der Arbeitsmenschen klar zu machen, dass er ein Stadtmensch ist, die lachen ihn aber aus. Zu oft haben verzweifelte ‘Unwürdige’ versucht, ihr Schicksal zu wenden, in dem sie genau das vorgaben. Auch die Verwalter dürfen nicht in die Stadt. Sie sind Verbannte. So konnten sie die Beweise, die  Kassandro vorbrachte, nicht prüfen.

Zu Perdita fühlt er sich bald sehr hingezogen. Von ihr erfährt er, dass einige der Schächte in der Steilküste von den Arbeitern weit ins Landesinnere vorgetrieben wurden, um irgendwann einen Durchbruch in die Freiheit zu schaffen. Sie hoffte, dass es einigen der damals Verschütteten gelungen war, dieses Vorhaben zu vollenden.

Als sie krank wird, kann er sie überreden, eine Flucht zu wagen. Sie warten den nächsten Sturm ab und flüchten in der Nacht.

Sie gelangen zu einer Gruppe ehemaliger Arbeitsmenschen. Einige sind nach Stürmen geflüchtet, andere sind durch die schräg nach oben gegrabenen Tunnel in die Freiheit gelangt. Sie treffen auch Biancos wieder. Er ist Heiler und enger Berater der Anführerin Stephana geworden. Er kennt die richtigen Kräuter und schnell ist Perdita wieder auf den Beinen.

In der Gruppe gibt es Tier- und Pflanzenkundler, Erd- und Wasserforscher sowie andere Wissenschaftler. Sie haben durch die genaue Beobachtung der Natur gelernt, die Zeichen von Wind und Wetter, Flora und Fauna zu deuten. Stürme können sie inzwischen vorhersagen.

Am meisten beeindruckte Kassandro der Bericht eines älteren Wissenschaftlers, der behauptete, dass die Küstenform sich im Laufe der Zeit immer wieder verändert habe. An einigen Stellen versandete das Meer, an anderen fraß es Buchten tief ins Land. 

Kassandro musste an die Stadt denken. Die Menschen waren sich so sicher, dass sie allein die Macht hatten, die Küste zu formen. Mit dem Bau der hellen Stadt am Meer hatten sie es bewiesen. 

Mabu führte ihn auf eine erhöhte Stelle, die sie “Berg” nannten. Von dort aus zeigte er ihm einige der Küste vorgelagerte Nehrungen. Ihre Form ändere sich von Jahr zu Jahr. Der Forscher hatte in vergangenen Jahr einige Zustände auf Leinentücher gezeichnet. Auch diesmal spannte er ein Tuch zwischen zwei Hölzer und zeichnete mit einem Stück dunkler Erde Form und Lage der Sandinseln so auf, wie sie sich heute darboten. Vorsichtig rollte er das Tuch zusammen. Wieder im Lager angekommen, wollte er die Zeichnung mit Kassandro auswerten. 

Etwas weiter östlich machte der Wissenschaftler Kassandro auf einen Findling im Wasser aufmerksam, etwa fünfhundert Schwimmzüge vor der Küste. Er sah so aus wie andere Steine in dieser Gegend, nur lag dieser hier im Wasser und war so groß, dass er selbst weit draußen noch über die Wasseroberfläche hinausragte. Wie war er dorthin gekommen? Der Meeresboden bestand an dieser Stelle aus weißem Sand und Muschelbänken, die jedoch allesamt unter dem Wasserspiegel lagen.

Man erzählte sich, dass vor sehr langer Zeit die Kinder eines Riesen Saltuslapis spielten, dieses alte Sandkastenspiel mit rundlichen Steinen. Die Kleineren verbündeten sich gegen ihre große Schwester und versuchten durch Tricks das Spiel für sich zu entscheiden. Als die junge Riesin das falsche Spiel bemerkte, wurde sie wütend und schleuderte einen der größeren Steine ins Meer, wo er heute noch liegt. 

Nicht einmal die Kraft der See hatte bisher vermocht, ihn zu bewegen.

Die Wissenschaftler hatten den Stein untersucht. Sie waren getaucht, um seine wahre Ausdehnung unter Wasser festzustellen. Sie fanden in seiner unmittelbaren Umgebung Reste von Bäumen und Sträuchern, die der Findling unter sich begraben und mit seinem Gewicht am Meeresboden festgehalten hatte. Hieraus folgerten sie, dass sich das Meer vor Zeiten ein sehr großes Stück Land genommen haben musste.

Bestärkt wurden sie darin, weil sie beobachteten, wie bei jedem kleineren Küstenabrutschen Teile der Vegetation, Steine und Geröll vom Meer verschlungen wurden. Man stellte sich das damalige Ereignis ähnlich vor – nur musste es von viel gewaltigerem Ausmaß gewesen sein.

Kassandros Tage, Wochen und Monate waren angefüllt mit Lernen. Gierig saugte er das neue Wissen in sich auf. Er hatte das Gefühl, dass Fragen beantwortet wurden, die er schon lange mit sich trug. Und noch mehr. Er selbst war beteiligt an der Lösung von uralten Rätseln. Das verschaffte ihm tiefe Befriedigung und immer deutlicher sah er, was seine Aufgabe im Leben war. Er musste die Zukunft erforschen. Hierfür war es notwendig, sich mit dem auseinanderzusetzen, was einmal war und das, was gerade geschah, aufmerksam zu beobachten und zu dokumentieren. Denn jeder Moment der Gegenwart war eben noch Zukunft und doch schon Vergangenheit. 

Stundenlang saß er am Strand und beobachtete die Wellen. Mit jedem Rückzug zogen sie feine Sandkörnchen mit sich. So floß stetig Sand in Richtung Meer. Wie in einem der Zeitmesser. Er träumte. Die Zeit wurde umgedreht.

Bald erkannte er Regelmäßigkeiten. 

Schließlich erlangt er auf Basis seiner Studien eine schreckliche Erkenntnis. Ariveda ist dem Untergang geweiht. Alle Berechnungen und Herleitungen weisen darauf hin. 

Einen Strand gibt es in der Nähe der Stadt praktisch nicht mehr. Unmittelbar am Fuße der Steilküste trifft das Meer auf das Land. Sie bietet dem Meer kaum noch Widerstand. Beständig frisst sich die See weiter und weiter ins Land, begünstigt durch die Aushöhlungen bei der befohlenen Rohstoffsuche.

Kassandro will in die helle Stadt am Meer zurück, um die Bewohner zu warnen und vor dem Untergang zu bewahren. Noch scheint es möglich, durch die Verstärkung der Bollwerke und Deiche sowie der Umsiedlung einiger Bereiche der Stadt ins Landesinnere, den größten Teil von Ariveda zu erhalten.

Kassandro macht sich auf und lässt Perdita schweren Herzens zurück.

In Ariveda angekommen wird Kassandro zwar nicht verstoßen, man erinnert sich an ihn und bedauert sein “Schicksal” da draußen bei den Unwürdigen, seinen Prophezeihungen schenkt man jedoch keinen Glauben. Die Änderungen erscheinen zu unbequem. Und warum sollen die Deiche, die solange zuverlässig ihren Dienst taten, nun auf einmal nicht mehr halten? Man fühlte sich mächtig und unzerstörbar.

Erst als der große Sturm sich zur berechneten Zeit brüllend Bahn bricht, erkennen die Bewohner, dass Kassandro recht hatte. Die meisten können dank ihm noch ihr nacktes Leben retten. Aber all ihr Reichtum ist verloren. Die helle Stadt wird vom Meer verschlungen.

Kassandro will zurück zu den Wissenschaftlern und vor allem zu Perdita.

Kassandro wurde immer leichtfüßiger. War ihm eben der Weg noch beschwerlich und weit vorgekommen, so fiel nun das Gehen immer leichter. Er konnte seinen Schritt sogar noch beschleunigen, obwohl er bereits seit Stunden unterwegs war und eine weite, unwirtliche Strecke hinter sich hatte. Im Takt seiner immer schneller werdenden Schritte jubelte sein Herz. Gleich, gleich würde er Perdita wiedersehen! Er hatte sich in den vergangenen Tagen so sehr nach ihr gesehnt und sich den Moment seiner Rückkehr vorgestellt. Er wollte sie in den Arm nehmen und sanft an sich pressen – lange und  mit dem gesamten Körper spürend. Und nun hatte er das Gefühl, den Geruch ihrer sonnenbronzenen Haut bereits wahrnehmen zu können. Er wurde noch schneller. Spürte nicht das Gestrüpp, das ihn peitschte. 

Noch eine kleine Anhöhe – dahinter war das Lager. Der Anblick war ihm vertraut – er kam nach Hause. Nur die kleinen Rauchfähnchen der offenen Herdfeuer fehlten. 

Er sah es nicht.

Endlich stand am Rand der Senke. Perdita! Er stieg hinab. Niemand sah ihn kommen. Wer hat heute eigentlich Wache?, überlegte Kassandro. 

Jetzt erst fiel ihm auf, dass er überhaupt niemanden sah. Das Lager war verlassen, die Feuerstellen kalt. Er wischte sich über die Augen, als könnte er das, was er sah und langsam begriff, damit zur Seite schieben. Fast gelang es. Vielleicht hatte die Gruppe einen neuen besseren Standort gefunden. Er suchte nach einer Nachricht von Perdita. Ihre Schlafstelle war aufgeräumt. Eine Nachricht fand er nicht. Auch nicht an seinem Platz. Er untersuchte noch die Hütten von Biancos und Mabu. Aber auch dort, fand er keine Hinweise darauf, wo die Gruppe abgeblieben sein konnte.

Ein Eremit erzählt, dass die Gruppe am Tage des nahenden Sturms in Richtung Küste gegangen waren, aber nicht zurückgekehrt ist.

Er fühlte einen Schlag. Innerlich. 

Kassandro ist untröstlich. Er wird sich seiner tiefen Liebe zu Perdita bewusst und will ihr in die Fluten folgen. In Erinnerung an das Erlebnis während des Sturms, als er vom Deich ins Meer stürzte, meint er nun, dass es wohl seine Bestimmung sei, im Wasser umzukommen.

Er taucht hinab. Aber statt zu ertrinken, beginnt er Wasser zu atmen.

Er findet die untergegangene Stadt und trifft auch Perdita und die anderen wieder.

Der Zorn des Meeresgottes hatte sich nie gegen die fleißigen Arbeitsmenschen gerichtet. Er hatte die Verunglückten in seine Obhut geholt und zu Wasserelfen gemacht. Und nun auch die Gruppe der Wissenschaftler. 

Die hatten noch von Weitem gesehen, wie Ariveda im Meer versank. Dann brach ein großes Stück Küste ins tosende Meer und riss sie mit sich.

Die Stadt war nahezu unzerstört. Ein paar Säulen waren umgefallen, doch wurden sie in der Unterwasserwelt ohnehin nicht benötigt und lagen nun wie eine romantische Dekoration malerisch in der Gegend herum.

Auf Geheiß des mächtigen Meeresgottes bauen die Wasserelfen die Stadt zu einer Zuflucht für unschuldig oder freiwillig aus dem Leben geschiedene Seelen aus. Dabei sei es unerheblich, ob Menschen, Elfen oder Kobolde den Weg in die Wasserstadt finden. Alle werden sie zu Wasserwesen. Einzige Bedingung für das feuchte Asyl – es gibt keine Rückkehr, auch dann nicht, wenn sich jemand freiwillig in das feuchte Reich begeben hat. 

Ausnahme dieser strengen Regel: wer dort geboren wird, ist ein Wechselwesen. Kinder der Wasserelfen können zwischen den Elementen wählen und zwischen Land und Meer hin und her wechseln.

Dort wo einst Ariveda lag, hatte die Küste ihr ursprüngliches Aussehen wieder. Nichts erinnerte mehr an die reiche helle Stadt am Meer.

Nur manchmal bei ruhiger See können die Möwen bei ihrem Flug über den Wellen ganz unten im smaragdgrünen, azurblauen Meer die hell schimmernden Kuppeln einer Stadt erkennen.

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